Interview mit Kardinal Christoph Schönborn
„An den Früchten erkennt man es, das ist das Entscheidende“
Interview mit Kardinal Christoph Schönborn
Kardinal Christoph Schönborn öffnete als hoher kirchlicher Würdenträger durch seinen Besuch von Medjugorje zum Jahreswechsel 2009/10 eine Tür für die Kirche, die Papst Franziskus mit der Entsendung von Erzbischof Hoser als Apostolischen Visitator und die Erlaubnis offizieller Wallfahrten nach Medjugorje in der Zwischenzeit weit aufgestoßen hat. Christian Stelzer durfte die Reise mitorganisieren und den Wiener Erzbischof während seines Besuches von Medjugorje begleiten. Anlässlich des 40. Jahrestages der Erscheinungen führte er mit dem Kardinal ein Interview, in dem dieser über seine tiefen Erfahrungen in Medjugorje und über die Bedeutung der Ereignisse des Erscheinungsortes für die Kirche und die Welt sprach.
Lieber Herr Kardinal, am 24. Juni 2021 sind es 40 Jahre, dass die Ereignisse von Medjugorje begonnen haben. Sie sind persönlich durch den Gebetskreis Maria, Königin des Friedens in der Dominikanerkirche in Wien seit Mitte der 80er Jahre mit dieser geistlichen Bewegung vertraut.
Ich erinnere mich gut, als Sie während Ihres Medjugorje-Besuchs zum Jahreswechsel 2009/2010 beim Anblick der vielen Pilger spontan sagten, hier erlebe man den Sensus fidei, das Gespür der Gläubigen für das Übernatürliche. Könnten Sie uns beschreiben, was Sie damit gemeint haben?
Das, was ich so oft in Lourdes gespürt habe, habe ich auch in Medjugorje gespürt. Es gibt so etwas wie einen Riecher der Menschen, man kann das theologisch auch den Sensus fidei nennen, ein Gespür für die Gegenwart des Übernatürlichen. Man kann das schwer erklären, wo es herkommt. Ich weiß nur, dass es da ist. Und dieses Gespür der Menschen, der Gläubigen, ist auch das sichere Maß für den Weg der Kirche. Natürlich ist das Lehramt wichtig, unersetzbar! Aber das Lehramt drückt ja den Glauben aus, den Gott in die Herzen der Menschen gelegt hat, weil der Glaube eine Gnade ist. Papst Benedikt, noch als Professor Ratzinger, hat das oft und oft ausgedrückt, dass der Glaubenssinn der Gläubigen eigentlich das ist, was die Lebendigkeit der Kirche ausmacht.
Ich erzähle da immer gern ein Erlebnis aus meinen jungen Jahren, wie ich vollgestopft mit neuen theologischen Ideen nach Hause gekommen bin. Es war die Phase, als man uns erklärt hatte, dass man das mit dem Sohn Gottes aus der Zeit heraus verstehen müsse. Ich habe das alles meiner Mutter frisch serviert. Und meine Mutter hat mich groß angeschaut und gesagt: „Ja, wenn Jesus nicht der Sohn Gottes ist, dann ist doch unser Glaube leer.“
Da habe ich verstanden, dass da eine ganz andere Ebene dabei ist. Das ist nicht die theologische Reflexion, sondern das Glaubensgespür, das Glaubenswissen, und das ist die Basis des Glaubens der Kirche. Denn der Glaube der Kirche ist ja nicht zuerst ein Lehrgebäude, sondern die Beziehung, die die Menschen zum Dreifaltigen Gott, zu Jesus Christus, zur Muttergottes pflegen, und das Leben, das aus dieser lebendigen Beziehung kommt. Das nennt man den Sensus fidei, den Glaubenssinn des Volkes Gottes. Und das habe ich in Medjugorje sehr stark gespürt.
Während Ihres Aufenthaltes in Medjugorje haben Sie die Berge bestiegen, den Erscheinungsberg und den Kreuzberg. Viele Pilger, auch aus Österreich, haben Sie dabei begleitet. Die Vigil zum Jahreswechsel haben Sie mit den Worten eröffnet, Sie wären nach Medjugorje gekommen, um der Mutter des Herrn nahe zu sein. Dabei sah ich, wie aus den Gesichtern der vielen Gläubigen eine große Freude strahlte. Wie haben Sie selbst diese Tage erlebt?
Ich war auf beiden Bergen, auf dem Erscheinungsberg zuerst. Es ist für mich unvergesslich, als ich frühmorgens mit meinen Begleitern, meinem Neffen – Du warst auch dabei – am Fuß des Berges bei dieser Baumgruppe gestanden bin und Marija Pavlovic uns geschildert hat, wie sie als Jugendliche da hinaufgeschaut und oben die Gospa gesehen haben und wie sie dann zu ihr gelaufen sind. Das war für mich so überzeugend, wie jedes Mal in Lourdes an der Grotte, wo Bernadette die schöne Frau zu Beginn einfach „diese da“ nannte, weil ihr die Muttergottes noch nicht ihren Namen gesagt hatte. An dem Ort zu sein, wo die Jugendlichen das erste Mal gesehen haben, die einfachen Worte von Marija zu hören, mit denen sie es geschildert hat, das war für mich vielleicht der stärkste Moment während dieser ganzen Zeit in Medjugorje.
Als ich später dann den viel gelobten, aber von Papst Franziskus noch nicht veröffentlichten Ruini-Bericht gelesen habe, den Schlussbericht der Medjugorje-Kommission, in dem zum Ausdruck gebracht wird, dass die Kommission zur Überzeugung gelangt ist, die ersten Erscheinungstage als authentisch zu beurteilen, ohne sich dabei vorläufig über das Weitere auszusprechen, war dieser Moment früh morgens am Fuß des Erscheinungsberges wieder ganz präsent. Es war jener Augenblick, wo ich die innere Überzeugung gespürt habe: Das ist die Gospa, das ist sie selber.
Der Weg auf den Kreuzberg war dann ganz anders, mit einer großen Gruppe von Pilgern, auch österreichischen, und vor allem mit Schwester Elvira, die damals noch ganz kräftig war, sodass ich ihr fast nicht nachgekommen bin. Sie wurde ja auch gestützt von zwei kräftigen Burschen. Aber wir sind da gemeinsam hinauf. Unvergesslich ist mir die Freude in den Augen von Schwester Elvira. Und der Schwung dieser ganzen Pilgergruppe, das war auch ein sehr schöner Moment. Und ich verstehe jetzt, dass der Kreuzberg für viele eine sehr starke Erfahrung ist.
Als erster hoher kirchlicher Würdenträger haben Sie auch die Seher – zu deren großer Freude – zu Hause besucht und ihnen zugehört. Wie erinnern Sie sich an diese Begegnungen?
Die Seher, die ich kennengelernt habe, das waren Marija, Vicka, Mirjana und Ivanka. Ich habe sie als ganz normal erlebt. Marija Pavlovic hat uns in ihrem Haus zum Abendessen eingeladen. Ich erinnere mich an ihre vier Buben und an das Gebet in der Hauskapelle. Das war alles so normal. Und das ist für mich eines der ganz starken Zeichen, dass Medjugorje gesund ist. Da war nichts Exaltiertes. Und auch der Moment der Stille während des Rosenkranzes, wo Marija die besondere Nähe der Gospa erleben durfte, das war so normal, wie ich mir auch vorstelle, dass es in Nazareth, in der Heiligen Familie, zugegangen sein muss. Da waren der Sohn Gottes, die Gottesmutter und der Heilige Josef, und alles war ganz normal und einfach. Und das ist für mich so ein starkes Zeichen für Medjugorje: Da ist nichts Übertriebenes, kein Aufpeitschen der Gefühle oder Überborden des Emotionalen, sondern so, wie ich mir vorstelle, dass es sein muss, wenn die Muttergottes anwesend ist, also ganz normal, weil Gott sich ja in unsere Lebensbedingungen hineinbegeben hat. Ich kann mich erinnern, wie wir mit Marija bei ihrem ursprünglichen Haus vorbeigegangen sind. Da ist alles einfach. So sind die Erscheinungen, nicht mit Fanfarenstößen, sondern in Einfachheit, die letztlich die größte Eigenschaft Gottes ist, wie auch der Heilige Thomas von Aquin sagt, der seinen großen Traktat über das Geheimnis Gottes mit der Einfachheit Gottes beginnt.
In einem Zeitungsinterview sagten Sie im Anschluss an Ihren Besuch in Medjugorje, dass Sie fest überzeugt sind, dass aus dem so eindrucksvollen Wirken der Gospa eine Erneuerung des Christentums in Europa entsteht, die wir so dringend benötigen. In ähnlicher Weise hat sich Erzbischof Hoser kürzlich geäußert. Wie sehen Sie diese Hoffnung für die Kirche heute, elf Jahre später?
Die Erneuerung in Medjugorje haben sehr viele Menschen erlebt. Papst Franziskus hat sich öfter über Medjugorje geäußert und hat immer diesen Punkt hervorgehoben: die Bekehrung.
Gerne erzähle ich eine Anekdote, eine Begebenheit in der Eisenbahn. Ich bin von Innsbruck nach Wien gefahren, wollte gerade mein Brevier beten, als auf dem Sitz neben mir eine recht korpulente Dame Platz nahm. Sie begann sofort, mich anzusprechen: „Wo sind Sie denn Pfarrer?“ Als ich ihr dann zu verstehen gab, dass ich Bischof in Wien bin, war sie zuerst ganz erschrocken, fing aber dann von sich aus an, mir zu erzählen: „Mein Mann, der war in Medjugorje. Und da ist er auf einen Berg hinaufgegangen. Und seit er wieder zu Hause ist, ist er ganz verändert. Er ist so freundlich, wie ich ihn mein ganzes Leben nicht erlebt habe. Jetzt muss ich da selber einmal hinfahren und schauen, was das ist.“, sagte die Frau, die in ihre burgenländische Heimat unterwegs war. Das war, in aller Spontaneität und Einfachheit, wirklich ein Glaubenszeugnis über einen Mann, der in Medjugorje so verändert wurde, dass es seine Frau, die unter seiner Heftigkeit offenbar jahrelang gelitten hatte, gleich gemerkt hat und jetzt über ihn sagt: „Mein Mann ist ganz verändert.“ Das ist Umkehr, Erneuerung.
Papst Franziskus hat durch die Entsendung von Erzbischof Hoser als apostolischen Visitator und durch die Erlaubnis offizieller Wallfahrten nach Medjugorje eine Tür weit aufgestoßen, die Sie, lieber Herr Kardinal, so erlaube ich mir zu sagen, bei Ihrem Besuch geöffnet haben. Es wird gesprochen, dass Medjugorje als Heiligtum anerkannt wird. Was würde das für Medjugorje und die Kirche bedeuten?
Papst Franziskus hat ganz entscheidende Schritte für Medjugorje gesetzt. Ich denke, wir können ihm nicht genug dafür danken. Er hat sich das Thema Medjugorje persönlich an sein Herz genommen. Er hat den Bericht der Kommission, die Papst Benedikt eingesetzt und die vier Jahre lang unter der Leitung von Kardinal Ruini gearbeitet hat, mehrmals öffentlich als ganz positiv gelobt und hat damit eigentlich durch sein Wort sein Vertrauen zu dem, was der Himmel uns in Medjugorje schenkt, zum Ausdruck gebracht. Und er hat durch die Entsendung von Erzbischof Hoser einen ganz entscheidenden Schritt getan. Er hat damit nämlich Medjugorje eigentlich unter den Schutz des Papstes gestellt, indem er einen päpstlichen Delegaten für Medjugorje ernannt hat.
Dass er auch einige zurückhaltende Äußerungen über die Erscheinungen oder Botschaften getan hat, die einige bekümmert, besorgt, traurig gemacht hat – ich denke, er wollte damit etwas ganz Wichtiges sagen: Medjugorje ist selbst eine Botschaft. Das Wirken der Gospa ist die entscheidende Botschaft. Die wichtigste Botschaft ist die Umkehr. Das hat sie hunderte Male in den Botschaften gesagt. Und das geschieht. Und das ist auch das, wohin der Papst die Aufmerksamkeit hinlenkt.
Ich habe persönlich immer wieder in den Diskussionen über Medjugorje gesagt, dass ich beunruhigt wäre, wenn die Botschaften von Medjugorje jedes Mal etwas Neues brächten. Sie bringen aber immer dasselbe, in kleinen Variationen. Warum? Weil eine Mutter ihren Kindern immer dasselbe sagt. Wenn die Kinder noch klein sind, fragt sie: „Hast du dir die Zähne geputzt?“, „Hast du dir die Hände gewaschen?“, „Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“ Das Entscheidende ist nicht, dass wir jedes Mal etwas Neues erwarten, sondern dass wir jedes Mal an das erinnert werden, was zum christlichen Leben gehört.
Das habe ich in den Diskussionen immer wieder gesagt: „Ist es nicht etwas Erfreuliches, dass Millionen Menschen jeden Monat auf der ganzen Welt eine Botschaft lesen, die sie daran erinnert: „Betet!“, „Kehrt um!“, „Tut Buße!“, „Hört auf meinen Sohn!“, „Danke, dass ihr mir zugehört habt!“?
Um es noch einmal anders zu sagen, wie es Papst Franziskus mehrmals gesagt hat: An den Früchten erkennt man es, das ist das Entscheidende.
Wir freuen uns auf den 14. September 2021, wenn Sie die Pforten des Stephansdoms für das 14. Friedensgebet der Medjugorje-Gebetsbewegung öffnen, voraussichtlich das zweite während der Pandemie. Gibt es ein Wort, das Sie den Lesern in dieser besonderen Zeit mitgeben möchten?
Ich glaube, die Pandemie ist eine Prüfung für die ganze Welt. Sie ist aber auch eine Gnade. Denn die Gnaden kommen uns ja nicht immer nur, sozusagen, wie durch eine Sachertorte zu, sondern auch durch Prüfungen. Und die Gnade von dieser Pandemie sehe ich darin, dass wir alle einen Dämpfer bekommen haben, dass all das, wie wir gelebt haben, nicht selbstverständlich war, dass man in der ganzen Welt herumfliegt, dass alles immer noch mehr, noch größer, noch schneller wird. Und plötzlich muss alles den Rhythmus ändern. Und ich glaube, Gott will uns damit etwas sagen. Was er uns damit sagen will, da müssen wir, glaube ich, hinhören: „Zeige es uns!“ Und ich denke, in dieser Situation haben die großen Heiligtümer einen besonderen Platz. Und soweit ich weiß, wird ja Medjugorje in Rom schon in der Liste der Heiligtümer geführt.
Was macht man, wenn man zu einem heiligen Ort geht? Reinigung, Umkehr, Besinnung, das Leben ändern – alles Dinge, die jetzt durch die Pandemie notwendig geworden sind. Und wir haben uns daran gewöhnen müssen. Das sehe ich auch als ein Zeichen Gottes für uns und die ganze Welt und natürlich auch für die Kirche.
Wir werden am 14. September, am Fest Kreuzerhöhung, sicher auch Gott danken dafür, dass er uns die Zeit der Besinnung schenkt. Es hätte viel schlimmer kommen können, es hätte ein Weltkrieg sein können, es hätten große Naturkatastrophen sein können. Es ist nur ein Virus, ganz klein, aber das hat uns alle zur Besinnung gebracht, genötigt. Das ist schon ein Zeichen Gottes!
Danke für das Gespräch!